23. Juni 2023

Verrückt! Gießen verboten: Eine Stadt als Opfer des Klimawandels

Bundesregierung sieht sich zu einer drakonischen Maßnahme gezwungen

von Holger Finn

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Bildquelle: Syda Productions / Shutterstock Blumen werden gegossen, doch Gießen wird verboten.

Die Entscheidung stand schon. Als Nächstes würde es ein Messerverbot geben, außer im Freibad, aber auch ein Selbstbestimmungsrecht, das ausdrücklich festlegt, wie sich bei Verstößen zu verhalten ist. Schnelle Hausverbote und Videoüberwachung, zusätzlich eine Schneidwerkzeugsteuer für öffentliche Verkehrsmittel – nach ihrer Einigung auf die Verschiebung des Bundesheizungsumbaus auf die Zeit nach der Erstellung flächendeckender kommunaler Fernwärmepläne strebte die Ampel an, noch vor der parlamentarischen Sommerpause Nägel mit Köpfen zu machen, um die Kuh rasch von Eis zu bekommen, damit die Demokratie wieder in trockene Tücher kommt.

Überraschungsmanagement in Berlin

Dann aber begannen die Dürre, kamen Extremstwetter, Höchsttemperaturen um 30 Grad, fehlender und Starkregen, der erneute Streit um die ARD-Wetterkarten, deren dramatische Farbgebung bereits in den 90er-Jahren für viel Ärger gesorgt hatte. Wie bei so vielen anderen Eilentscheidungen in Berlin – Ältere erinnern sich an die schweren Waffen und an die zur Abwehr der russischen Energieangriffe unerlässliche Gasumlage – kam hinten etwas ganz anderes raus, aus vorn angekündigt worden war.

Nur zehn Tage nach dem angekündigten Messerverbot und nur wenige Stunden, nachdem die stellvertretende CSU-Vorsitzende Dorothee Bär sich wegen der außer Rand und Band geratenen Umfrageergebnisse der AfD für ein neues Parteiverbotsverfahren starkgemacht hatte, traf die neueste Symbolhandlung weder Messer noch Freibadbesucher ohne Englischkenntnisse oder teilweise nachweislich eindeutig Rechtsextrembestrebte.

Das erste Stadtverbot

Die „Tagesschau“ meldete es brühwarm: Gießen wird verboten, angestrebt sei damit, den Wassermangel im Land abzumildern. Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung sich zu einer drakonischen Maßnahme gezwungen sieht: Gießen ist immer eine Universitäts- und Kreisstadt, sie liegt nicht irgendwo abgelegen im fernen Osten bei Bautzen oder Sonneberg, sondern mitten in Mittelhessen.

Hier, malerisch versteckt zwischen den acht großen, geheimnisvollen Luftschutztürmen der Bauart Winkel, die als die architektonischen Kleinode der von Wilhelm von Gleiberg vor 900 Jahren begründeten Siedlung gelten, haben sich inzwischen rund 91.000 Einwohner gemütlich eingerichtet. Sie lassen sich in ihrem Stadtrat einsichtigerweise von einer kräftigen grünen Fraktion vertreten, gehen ihren Lehr- oder Verwaltungstätigkeiten mit großer Leidenschaft nach und können heute schon auf herkömmlich und klimaschädliche wirtschaftliche Tätigkeiten verzichten.

Steigende Stagnation

Diese Stadt nun vollständig zu verbieten, um ein Signal für den „zunehmenden Klimawandel“ bei wachsender Abnahme und steigender Stagnation der verfügbaren Regenmengen zu setzen, scheint im ersten Augenblick übertrieben. Schon allein aufgrund seines politischen Engagements hat der Gießener als solcher einen weitaus kleineren CO₂-Fußabdruck als etwa der durchschnittliche Sachse – ein Gießener verursacht heute schon nur noch rund sechs Tonnen Treibhausgasemissionen, kaum mehr als das Sechsfache eines in Afrika lebenden Menschen. 

Das ist nicht nur eine enorme Reduzierung im Vergleich zum Basisjahr 1990, auf das sich die Klimakonferenz von Rio des Janeiro einst auf deutschen Druck geeinigt hatte. Sondern auch ein Zeichen, etwa Richtung Sachsen, wo die Werte beinahe doppelt so hoch liegen. 

In der Mitte der Gesellschaft

Trotzdem trifft es nun nicht Görlitz, Cottbus oder Templin, Freiberg oder wenigstens Hoyerswerda, sondern mit Gießen eine Stadt aus der Mitte der Gesellschaft, die berühmt ist für ihr feucht-gemäßigtes Klima, großzügige Klimageldzahlungen und ihr Vermögen, die Auswirkungen des Klimawandels „in Form extremer Hitze, Trockenheit, Starkregenereignissen und Überschwemmungen zu spüren“. 

Auch Gießen kennt längst nur noch Temperaturen, die zu warm sind, wenn sie nicht zu kalt ausfallen. Es fehlt an Regen, oder es fällt zu viel, an einer Hand lassen sich die Tage abzählen, an denen tatsächlich einmal die langjährigen Durchschnittswerte erreicht werden. Eine typisch deutsche Stadt also doch, auf den ersten Blick ganz normal und ohne Einschränkungen bewohnbar. Auf den Zweiten aber bedroht und gefährdet.

Der Schritt, Gießen komplett zu verbieten, erscheint so drastisch, aber doch nachvollziehbar. Bis sich die Lage normalisiert hat, wenn der deutsche Energieausstieg spätestens ab 2038 weltweit Wirkung zeigt, müssen nun andere Lösungen gefunden werden, um die Betroffenen zu unterstützen. Dabei ist die Solidarität der gesamten Zivilgesellschaft gefordert, die bei aller durchaus erlaubten Debatte um die Notwendigkeit des Verbotes von Gießen nicht vergessen darf: Diese Stadt geht nur voran. Verschärft sich die Lage weiter, kann es jede treffen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Autors.


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